Wohlbefinden

  • Funktionale Integration wendet sich an die ältesten Teile unseres sensoriellen Systems. Die auf Berührung reagieren, auf die Empfindungen von Zug und Druck, auf die Wärme der Hand und ihre Streichelbewegung. Die im wörtlichen Sinn be-handelte Person spürt zunehmend den sich verringernden Muskeltonus, das Tieferwerden ihres Atmens und seine Regelmäßigkeit, Wohlbehagen im Unterleib, den besseren Kreislauf in der sich weitenden Haut, und sie wird von diesem Empfinden eingenommen. Sie empfindet ihre primitivsten, d. h. entwicklungsgeschichtlich ursprünglichen, vom Bewusstsein vergessenen Verhaltensschemata und erinnert sich des Wohlgefühls eines heranwachsenden kleinen Kindes.
  • Betrachten wir einmal näher, wie aus einem Kind ein Geiger wird. Bei seiner Geburt kann niemand für die Zukunft des Neugeborenen einstehen. Wir wissen aus vielfacher Beobachtung, dass das Kind in der Regel wächst und während seines ersten Lebensjahres allerlei Dinge tut, die Erwachsene nicht tun, und wir sehen diese Tätigkeiten als Vorbereitung fürs Erwachsensein. Das Seltsame daran ist, dass diese Art Tätigkeit tatsächlich irgendeine Art von Erwachsenem zum Ergebnis haben wird. Während der ersten zwei Jahre scheinen diese Vorbereitungen für die künftigen, später so verschiedenen Entwicklungen sehr ähnlich zu sein. Die Knochen des Kindes wachsen, die Muskeln halten mit dem Skelettwachstum Schritt, und das Wachstum wird von zahlreichen Faktoren aus der Umgebung merklich beeinflusst. Es wird im Raum gekrochen, und die zeitliche Abstimmung der Bewegungen ist zwingend und knapp. Man kann nicht kriechen, indem man die Glieder wie zufällig auf gut Glück hebt und bewegt.
  • Nun werden aber die Organisierung des Körpers in der Zeit und seine räumlichen Konfigurationen vom Schwerefeld diktiert, das auf diesen wie auf jeden festen Körper einwirkt. Mit anderen Worten: das Wachstum der Muskeln und des Skeletts ist nicht einfach irgendein Wachstum, sondern ein ganz spezifisches. Durch Vertrautheit und Geläufigkeit passt es sich der ständigen Bewegung des kleinen Körpers im Schwerfeld an, dessen Einfluss so selbstverständlich ist, dass man ihn fast außer Acht lassen könnte. Alles, was wir sehen, sind Konfigurationen, die uns wohlbekannt sind, da sie den Erfordernissen des Gleichgewichts, der Stabilität und der Beweglichkeit entsprechen, die auch wir auf die gleiche Weise einmal kennengelernt haben, ohne deswegen je an die Schwerkraft zu denken.
  • Es geschehen noch viele andere Dinge, die wir, weil sie uns geläufig sind, übersehen. Das Kind isst auch ganz anders als es gesaugt hat; es spricht Silben und Wörter aus; es ergreift alle möglichen Gegenstände und geht mit größerem oder geringerem Geschick damit um. Das alles tun freilich nicht nur die Knochen allein: sie werden von den Muskeln bewegt, und die Muskeln brauchen Knochen zum Bewegen. Es ist ferner klar, dass zwischen Skelett und Muskeln einerseits und andererseits dem, was außerhalb des Körpers liegt, das Nervensystem die Brücke schlägt: zum Schwerefeld hin, zum Raum, zur Zeit und zur gesellschaftlichen Umwelt, ohne die es keine Gegenstände zum Greifen und keine Wörter zum Hören und Sprechen gäbe. Kurz, die Umgebung, das sind Sie und ich, auch das Geschlecht spielt bereits eine Rolle dabei, sowie Gegenstände, Raum, Zeit, Schwerkraft und Kultur.
  • Wir haben unseren Geiger fast vergessen. Auch er war einmal Säugling und Kind. Seine Knochen und Muskeln wären ganz anders gewachsen, wenn er kein Nervensystem gehabt hätte, das zwischen ihm und der ihn umgebenden Welt vermittelte. Die Umgebung, zusammengesetzt aus den vielerlei Teilen und Aspekten, die ich aufgezählt habe, wird vom Nervensystem durch die Sinne wahrgenommen. Es wird den Körper leiten und lenken, ihn organisieren, anpassen und einstellen, auf die Dinge seiner Umgebung zu reagieren. Die Hände, die Füße, der ganze Körper werden sich auf die Umgebung abstimmen durch das Nervensystem, das seinerseits wissen wird, ob eine Veränderung durch eine Handlung jeweils zufällig entstanden ist oder erwartungsgemäß, sowohl im Körper als auch draußen.
  • Auf solche umständliche Art haben die Finger durch fortgesetzte Berührung mit Bogen und Saiten gelernt, Geräusche zu erzeugen, welche das Nervensystem als angenehm oder als unerträglich empfand. Die unaufhörliche Aktivität dieses Systems ist darauf gerichtet, sich durch unsere Muskeln und unser Skelett in einer Umgebung zu bewegen, die dadurch zu einem Teil unserer selbst wird. Diese Umgebung wird uns so erscheinen, wie wir sie durch unsere Tätigkeit wahrnehmen. Sie wird daher ein Spiegelbild dessen sein, was unser Nervensystem braucht, um weiterhin sich zu bewegen, zu handeln und auf die Veränderungen zu reagieren, die in einer beweglichen und sich verändernden Umgebung geschehen.
  • Dass wir unsere Augen und Hände zu dem hin richten, was um uns ist, gehört zu den ersten Dingen, die wir lernen und tun. Was sonst könnten wir denn tun? Daher ist Richtung wahrscheinlich der primäre, grundlegende Gedanke, die Grundbewegung aller. Wohin gehen Sie? Wann gehen Sie? Wo kein wo ist, hat wann keinen Sinn. Grundlage unserer Orientierung ist rechts und links, also die Drehung um uns selbst. Sich ausrichten, in eine Richtung zeigen: das bleibt auch bei Geistesgestörten erhalten; ohne das könnten sie sich überhaupt nicht bewegen. Und tierisches Leben ohne Bewegung ist – nun, was ist es?
  • Etwas, das sich uns entzog, liegt jetzt offen vor uns da. Unser Geiger hat sich eine Fertigkeit erworben, seine Finger auf einem äußeren Gegenstand mit einer Geschicklichkeit zu bewegen, die es ihm ermöglicht, unausgesetzt zu hören und zu beurteilen, während seine Finger und Hände in Bewegungsabläufen gelenkt werden, welche das Nervensystem durch den Gebrauch eines Gegenstandes aus der Umgebung, nämlich der Geige, gebildet hat. Um Geiger zu werden, ist die Umgebung ebenso nötig (man kann es nicht ohne sie) wie das Nervensystem (ohne das keine Bewegung, kein Hören, keine Wahrnehmung des eigenen Körpers möglich ist) und wie der Körper (kein Geigenspiel ohne Finger, Hände, Sitzen oder Stehen).
  • Wenn wir noch den Ort hinzufügen wo er spielt, die Richtung, in die er gewendet ist, für wen er spielt und wozu sein Spiel dient, dann können wir anfangen zu verstehen, worum es bei Funktionaler Integration geht.